Traditionelle indische Musiklehre
  Indische Ragas – Inhalt und Struktur – Friedrich Glorian:

 > D O W N L O A D <

Im Laufe meiner langjährigen Studien und praktischen Ausbildung im traditionellen Lehrer-Schüler-Verhältnis (guru-shishya-parampara) in Nordindien ist mir klargeworden, daß es nur im unmittelbaren Erleben, im tiefen inneren Nachempfinden der Intervallstruktur und Architekturder Ragas möglich ist, den harmonikalen Zusammenhang der shrutis zuverstehen und folglich musikalisch wiedergeben zu können. IndischeMusik wurde nie notiert, sondern immer direkt aus dem Munde des Lehrers an das Ohr des Schülers weitergegeben, ohne das Herz dabei zu vergessen. 

Nur so war und ist es heute noch möglich, die traditionellen Stile und Musikformen über Jahrhunderte hinweg zu bewahren.

Seit mehr als zweitausend Jahren befaßt sich die Musiktheorie Indiens und des Abendlandes (natürlich auch anderer Kulturen) mit dem Intonationssystem ihrer Musik, und beiden Kulturen ist das Konsonanzprinzip zur Bildung von Tonleitern gemeinsam. Als wichtigstes Konsonanzprinzipwird dabei die Oktave (2/1 oder 22 shrutis), die reineQuinte (3/2 oder 13 shrutis) und deren Umkehrung, die reine Quarte (4/3 oder 9 shrutis) angesehen. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Kulturen liegt darin, daß im Abendland (wie auch in der chinesischen und arabischen Musiktheorie) arithmetische Proportionen der Skalenbildung zugrunde liegen, während Indien eine topologische Sichtweise bevorzugt, d. h. die Intervalle werden durch ihre Lage und Anordnung im Oktavraum bestimmt.

Anders ausgedrückt entspricht das Eine (Abendland) einem wissenschaftlich logischen und analytischen Denkansatz, das Andere (Indien) mehr einem ganzheitlichen, intuitivem Empfinden.

Deshalb findet sichauch in keiner der frühen musiktheoretischen Schriften Indiens (sangit shastra) irgend ein Hinweis auf die Definition von rationalen Intervallverhältnissen, die als Grundlage zur Skalenbildung von Ragas dienen könnten. Stattdessen liegen Intervallbestimmungen vor, die sich einzig darauf beziehen, was das Ohr, der Gehörsinn als musikalisch stimmig empfindet. Das indische Musiksystem ist im Laufe seiner langen Geschichte eng mit der vedischen Philosophie verflochten, und die Aufzeichnung der Musiktheorie wird denselben rishis (Weisen) zugeschrieben, die die Hymnen der Veden und die philosophischen Konzepte der Upanishaden niederschrieben.

Eine musiktheoretische Abhandlung des 13. Jahrhunderts (sangit-ratnakar) führt erst umfassend in organische und esoterische Anatomie (Entstehungsgeschichte des menschlichen Organismus aus metaphysischer und physiologischer Sicht), in psychoakustische und energetische Aspekte (wie z. B. Chakren und Meditation) und in das Phänomen des universellen Klanges nada ein, bevor überhaupt die musiktheoretischen Grundlagen behandelt werden.

Bereits zu Beginn der christlichen Ära, wenn nicht sogar früher, entstehen in Indien musiktheoretische Texte von höchster Brillianz, geschrieben oder zusammengefaßt von Autoren wie Bharata (natya-shastra) und Dattila (dattilam), die zur Intonation, zu Struktur, Form und Aufführungspraxis von Ragas Stellung nehmen. In diesen Texten sind u. a. Experimente beschrieben, bei denen mit zwei mehrsaitigen und gleichgestimmten Saiteninstrumenten (vina) durch ein systematisches Einstimmen in Quint-, Quart- und Terzintervallen die 22 shruti-Positionenerhalten werden. Noch heute stützen sich Musiktheorie und Aufführungspraxis in Indien im wesentlichen auf dieses Modell.

Ein mehr rationaler Ansatz, der die harmonikalen Intervallverhältnisse im Ragasystem untersucht, entwickelte sich in Indien gegen Ende des letzten und Anfang dieses Jahrhunderts unter dem Einfluß der englischen Kolonialherrschaft. Indische und westliche Musikwissenschaftler und Theoretiker sind seither darum bemüht, die „legendären“ 22 shrutis (Intervallschritte pro Oktave) in ein rationales harmonikales System oder Modell zu übertragen.

In diesem Sinne, zur gleichen Zeit wurde damit begonnen den traditionellen indischen Tanz zu bewahren, in seiner Ursprünglichkeit zu finden/zusammenzufassen und sich als Kultur und Eigenständigkeit gegenüber zeitgenössischer Strömungen und Missverständnisse behaupten („bollywood“) zu können, – und somit für künftige Generationen bewahrt werden.

Dieser Beitrag soll sich auf Struktur und Inhalt der Aufführungspraxis nordindischer Ragas der jüngeren Vergangenheit beschränken, mit einem zum Verständnis notwendigen Rückblickauf Geschichte und philosophische Überlieferung.

Indische Instrumentalmusik und die „voice culture“ (Stimmbildung) des klassischen Gesanges orientieren sich an einem obertonreichen Grundklang, der im klar definierten Klanggewebe der Tanpura seinen Ausdruck findet. Auf dieser Basis können die Musiker in Indien einenäußerst verfeinerten Sinn für Intonation im melodischen Ablauf entwickeln.

Wie können wir also das Phänomen „Raga“ erfassen? Wie unterscheidet sich ein Raga vom bloßen Tonvorrat einer modalen Leiter, und was drückt er dadurch inhaltlich aus? Stehen dahinter universelle Gesetzmäßigkeiten, oder ist dieses Phänomen nur innerhalb der indischen Kultur zu verstehen? Da es sich hierbei um ein äußerst komplexes Thema handelt, will ich der besseren Übersicht wegen die einzelnen Elementegetrennt behandeln, beginnend mit der Obertonstruktur der Tanpura als harmonikale Grundlage indischer Musik, danach die Ableitung der 22 shrutis aus der tonalen Struktur der Obertonreihe. Auf der anderen Seite sollen aber auch, soweit notwendig, ansatzweise die Zusammenhänge zwischen philosophischer Überlieferung, psychoakustischen Gegebenheiten sowie universellen Gesetzmäßigkeiten des indischen Musiksystems aufgezeigt werden.

„Ein Raga ist so etwas wie eine reich verzierte, geschnitzte Tür. Sie ist in sich wohl schön, doch ihr wahrer Wert liegt letztlich darin, daß sie sich öffnen läßt und neue Ausblicke gewährt…. Jedenfalls wird man sich stets bewußt sein, daß ein Raga immer weit mehr enthält als die bloße Geometrie und Abfolge der Töne.“

Der Begriff „Raga“ läßt sich schwerlich direkt übersetzen. Aus der vedischen Philosophie kennen wir das polare Wortpaar raga (anziehende Kraft) und dvesa (abstoßende Kraft) dass sich in Monismus (advaita) aufhebt, und aus psychologischer Sicht betrachtet auch soviel wie Sympathie und Antipathie bedeutet. „Raga“ könnte etwa mit „das was gefällt, oder „das was anziehend wirkt“ übersetzt werden. Es wird auch angenommen, daß der Wortstamm von ranga (Farbe) im Begriff Raga enthalten ist, da den sieben grundlegenden Tönen der modalen Skala unterschiedliche Farben zugeordnet sind, und die 22 shrutis stellen sozusagen farbliche Schattierungen dieser Töne (Chakrenlehre) dar. Wir können uns deshalb leicht vorstellen, daß mit einer bestimmten Auswahl dieser shruti-Farbtöne Raga-Klangbilder auf die musikalische Leinwand gemalt werden können, welche sich auf den emotionalen Zustand der Zuhörer auswirken, „ihren Geist, ihre Seele färben“ können. In den Ragamala-Paintings werden Ragas, oder vielmehr deren Charaktereigenschaften und psychologischer Gehalt visuell dargestellt, ähnlich den verschlüsselten Bildern der mittelalterlichen Alchemie.

Tantra, Raga, Yantra: …. Jeder Klangschwingung läßt sich ein visueller Aspekt zuordnen. Nehmen wir, wie es > Johannes Kepler in seiner Weltharmonik (Buch IV) < angeregt hat, eine gerade gespannte Saite und biegen sie zu einem Kreis, indem die beiden Enden zusammengebracht werden, dann läßt sich mittels der harmonikalen Teilung der Saite eine dem Kreis einbeschriebene geometrische Figur darstellen. Übertragen auf die Intervalle der Tanpura entspricht die ganze Saitenlänge, also der tiefere Grundton, dem vollen Kreis. Der halbe Kreis ergibt die Oktave. Die Dreiteilung des Kreises führt zur Quinte (im Kreis entsteht ein gleichschenkliges Dreieck) und mit der Vierteilung erhalten wir die Quarte (das Quadrat im Kreis):

„Die tantrische Lehre Indiens bedient sich dieser geometrischen Grundelemente, Yantras genannt, zur Meditation und Kontemplation: „Yantras sind visuelle Meditationshilfen, die entweder der Zentrierung dienen oder in symbolischer Form die Struktur der Energiemuster einer Gottheit wiedergeben.“

  • 1 Prime, Raum, Ursprung, in sich ruhend, alles in sich fassend (Aspekt der Konjunktion)
  • 2 Oktave (Aspekt der Opposition)
  • 3 Quinte, Feuer, Dynamik, auch Gleichgewicht (Trigon)
  • 4 Quarte, Erde, statisch, Struktur, fest (Quadrat) Auch Johannes Kepler hat diese Formen als geometrische Archetypen erkannt und einen Zusammenhang zwischen astrologischen Aspekten und musikalischen Intervallen hergestellt. So lassen sich z. B. aufgrund der bekannten astrologischen Aspekte den entsprechenden Intervallen charakteristische Eigenschaften zuordnen…