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SPRACHE KLANG & SCHWINGUNG

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Nicht nur in der modernen Physik, bzw. neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen hat Masse keine materielle Substanz mehr, und man ist daher nicht mehr der Ansicht, dass Teilchen aus irgendeinem Grundstoff bestehen, sondern sie sind Energiebündel… diese dynamischen Strukturen oder Energiebündel bilden die stabilen nuklearen, atomaren und molekularen Strukturen, die die Materie aufbauen und ihr den Anschein geben, als bestünde sie aus einer festen materiellen Substanz. Doch gehen wir zurück zur Auffassung der Tantras hinsichtlich dieses Themas:

 

Der Prozess der Schöpfung steht nach tantrischer Auffassung also in direktem Zusammenhang mit Sprache, Klang und Schwingung. Er wird beschrieben als etwas, das sich aus dem uranafänglichen leuchtenden Klang entfaltet hat. Bei diesem Urklang handelt es sich um einen höchst subtilen Zustand der göttlichen Klangschwingung. Durch immer weitere Verdichtung nimmt sein Grad an Feinheit und Reinheit ab, und er kondensiert beziehungsweise wird konzentriert in einem Tropfen (bindu) aus Klangschwingung, aus dem im weiteren Verlauf der Schöpfung durch Verdichtung alle Welten, Wesen und letztlich auch die Sprachen entstehen. Die Schöpfung ist also auch eine Evolution des Klanges/Wortes. Diese geschieht nach den Lehren Tantras im Verlauf eines Prozesses von vier aufeinander folgenden Phasen beziehungsweise durch das stufenweise Erscheinen von fünfzig Silben, den Silben des sanskrit Alphabets von a bis ksa. In der Yogasikha Upanishad (3. 6-8),  einer der wichtigesten Yoga-Upanishaden, die als grundlegend für den Hatha- und Laya (kundalini) Yoga gelten heisst es:

„Die Kraft der Sprache drückt sich in den Silben von a bis ksa aus. Buchstaben fügen sich zusammen um Worte zu bilden, und Worte fügen sich zusammen um Sätze zu bilden. Alle mantras, alle Veden, die Puranas, und alle andere Literatur, all die verschiedenen Sprachen und die sieben Musiknoten, all dies entsteht aus  n a d a. Die Göttin  s a r a s v a t i  wohnt in der Höhle des  m u l a d h a r a in allen Wesen.“

Die fünfzig Silben des Sanskrit-Alphabets werden daher auch als „Mutter Energien“ bezeichnet. Der Sanskrit-Begriff hierfür ist matrka, wörtlich „Mutter“ oder „Mütterchen“. Die Matrka-etymologisch verwandt mit dem Wort Matrix (lat. Mater, „Mutter“) – oder auch matrka-sákti ist nach Ksemaraja, einem der herausragenden tantrischen Philosophen, „die Urheberin des Universums, welche die Form der Laute von a bis ksa annimmt.“ All dies gilt natürlich auch für die kosmische wie auch die menschliche Dimension. Sie bringt das Universum hervor, aber sie erschafft und durchdringt auch alle Ebenen unseres Denkens, Fühlens und Wahrnehmens. Die Laute beziehungsweise Silben des Sanksrit-Alphabets werden daher auch als Mantras erachtet. Mantras sind Klangformen der höchsten göttlichen Energie (para-sákti). Doch was wir von ihnen hören und wie wir sie artikulieren, stellt eine sehr grobe Form der matrka-sákti dar. Da Mantras jedoch auf ihrer höchsten Ebene eins sind mit der höchsten sákti, können sie uns, bei richtigen und regelmäßigen Gebrauch, mit dieser höchsten Ebene in Verbindung bringen. Unser zerstreuter, ruheloser und begrenzter Geist wird durch die matrka-sakti eines Mantras, wie zB guru om, – das, wie jedes andere Mantra auch eine Kombination der Sanskrit-Silben darstellt – beruhigt, erweckt und gestärkt. Er gelangt so zu seinem göttlichen Ursprung.

Die Evolution der Klangenergie kann gemäß den tantrischen Lehren aber auch als eine Folge von vier Sprachebenen beschrieben werden. Nache den Ausführungen der tantrischen Schriften beginnt dieser Prozess auf einer Ebene der völligen Undifferenzierung. Auf dieser höchsten Ebene ist nichts manifestier – sozusagen der ewige Zustand vor der Schöpfung, vor dem Big Bang. Es existiert keine Zeit und kein Raum. Die Schöpfung ist hier verborgen in síva. Dieser Ebene entsprich para-vak, die höchste Sprachebene. Para-vak ist das ungeschaffene Wort, die Essenz der höchsten Realität – allgegenwärtig, ewig und alldurchdringend. Diese höchste Sprachebene ist identisch mit dem strahlenden, reinen Bewusstsein. Ein Zustand oder eine Dimension jenseits des Wortes, dh. jenseits von Schwingung. Der absolute Zustand verändert sich jedoch an einem bestimmten Punkt, wenn er in Richtung Manifestation beziehungsweise Schöpfung „kippt“. Dieser Ebene der Geburt der Schöpfung entspricht die zweithöchste Sprachebene – pasýanti-vak. Sie ist die eigentliche, erste Sprachebene, jene Ebende, die zwar keine Transzendenz und Allgegenwärtigkeit mehr besitzt, in der jedoch immer noch das reine Subjekt, das reine Bewusstsein vorherrscht. Pasýanti-vak bedeutet wörtilch „die visionäre Sprache“, weil auf dieser Ebene oder Stufe des göttlichen Bewusstseins das Verlangen zu sehen auftaucht. Es entsteht der göttliche Wunsch, die objektive Welt zu erschaffen – der göttliche Wunsch, wie er auch in der Genesis vorkommt:“ Und der Herr sprach: Es werde…“. Auf dieser Ebene, so sagen die tantrischen Schriften, existiert das kosmische Gedächtnis – sozusagen der Speicher aller Informationen über den vorherigen Schöpfungszyklus, welcher die Grundlage für den nun folgenden bildet.

Die dritte Sprachebene ist madhyama-vak, wörtlich „die mittlere Sprachebene“. Die mittlere heisst sie deswegen, weil sich hier die göttliche Energie genau auf dem Scheideweg zwischen göttlich-absolutem jenseits und weltlichem Diesseits befindet – dabei darf natürlich nicht vergessen werden, dass anch tantrischer Philosophie auch das Weltliche nichts als eine Manifestation des Göttlichen ist. Schießlich entsteht die vierte und letzte Sprachebene: vaikhari-vak „die feste/erstarrte Sprache“. Zuvor existierte die Einheit von Wort und Gott („Am Anfang war das Wort. Das Wort war bei Gott…“). Das Wort beziehungsweise die Sprache steht für die kreative göttliche Energie – sákti. Nun sind die göttlichen Kräfte entfesselt. Es entsteht das objektive, materielle Universum oder, wie die indischen Philosophen es sehen, maya, die Welt der Erfahrung der Objekte, der Begrenzungen und Illusionen – und natürlich, auf der mikrokosmischen Ebene, die Sprache, die wir hören und sprechen. Vaikhari vak kann auch mit „verkörperte Sprache“ übersetzt werden – sie ist die Sprache auf der Ebene unseres Körpers. Auf dieser sprachlichen Ebene geschieht die Trennung von Name und Form (nama, rupa), vom gesprochenen Wort und dem, was es bezeichnet. Solange wir über etwas nur denken, existiert eine Einheit von Wort und innerem Bild, sobald wir dies verbal äußern (wörtlich also: von innen nach außen bringen!), zerfällt diese Einheit. Gedanke, Name und Form sind voneinander getrennte Einheiten.

Je weiter sich die Sprachenergie also von ihrem Ursprung, der Ebene des höchsten Bewusstseins, entfernt, desto schächer wird sie. Vaikhari-vak ist im Normalfall die einzige Form der Sprache, die wir kennen, eine Sprache, die Ausdruck unserer eigenen (eingebildeten) Begrenztheit und Zersplittertheit ist. Indem sie uns verführt, nur kleine Bruchstücke und künstlich isolierte Teile der ganzen Wirklichkeit zu sehen und miteinander zu indentifizieren, erschafft diese Sprachebene den Zustand des Irrtums, die unvollendete Wahrnehmung, die uns an Unwissenheit und Schmerz bindet. In gewissem Sinne stellt diese Sprache einen großen Teil des „Problems“ unserer Knechtschaft dar. Um auf der Ebene dieser materiellen Welt leben zu können (auch um uns aus ihr zu befreien) benötigen wir jedoch dieses Instrument der Sprache unbedingt. Es ermöglicht uns auf dieser Welt, alles Mögliche in differnzierter Weise zu betrachten und zu benennen. Doch die Wahrnehmung der allem zugrunde liegenden Einheit ging uns durch die Differenzierung verloren. Nur Befreite (jívanmuktas) oder Vollkommene (siddhas) haben Zugang zu den höheren und höchsten Sprachebenen, beziehungsweise zu allen Ebenen der matrka-sákti, der höchsten Mutter, der Schöpfungskraft, der schöpferischen Matrix. Deshalb ist das gesprochene Wort solcher menschen von unvorstellbareer Kraft und ihre Wahrnehmung von der Sicht der Einheit geleitet. Die Sprache ist eben immer Ausdruck des jeweiligen Bewusstseins.

Bei Sprache ist es auch wert hier etwas in der metaphysischen Sprachphilosophie zu verweilen, da sie so bedeutsam für das Verständnis der tantrischen Philosphie und den Weg des Laya (kundalini) Yoga ist. Ein elementarer Begriff, der im Zusammenhang mit dem Thema „göttliche Schwingung“ ebenfalls erwähnt werden sollte, ist spanda. Innerhalb der tantrischen Tradition gibt es einen philosphischen Zweig der sich aussschliesslich hiermit befasst. Die zentrale Schrift, die den spanda untersucht, heisst spanda karika, „Strophen der Schwingung“, verfasst von dem siddha Kallata Bhatta (ca. 850-900 n.Chr.). Spanda ist ein Sanskritwort, das sich nicht leicht mit einem einzigen Wort übersetzen lässt. Es bezeichnet das göttliche Pulsieren, den schöpferischen Pulsschlag der höchsten Realität – die in den Tantras siva genannt wird.

Spanda ist eine Energie von unendlicher Kraft, die vollkommen frei ist, alles zu erschaffen, indem sie sich unentwegt ausdehent und wieder zusammenzieht. Diese Bewegungen, durch die das Universum zyklisch erschaffen und wieder aufgelöst wird, geschehen auf der Grundlage des freien göttlichen Willens und im Innersten des höchsten Bewusstseins, dessen „Substanz“ hierdurch keinerlei Veränderung erfährt (dh. es wird zu keinem Zeitpunkt weniger oder mehr). Man kann sich spanda vielleicht als einen gewaltigen, unendlich großen Ozean vorstellen, der permanent auf- und abwogt und durch seine eigene Bewegung in Verzückung gerät. Doch nicht nur das Werden und Vergehen des Universums als solchem entsteht durch spanda. Auch alle Dualität innerhalb des Universums, alle Gegensätze unseres Lebens, basieren auf der Grundlage von spanda: Wachen und Schlafen, Freude und leid, Zuneigung und Abneigung. All das ist nur das Spiel, der Impuls, von spanda.

Eine der grundlegenden Lehren des Tantra geht daher davon aus, dass wir uns selbst in dieser Welt gefangen halten, da wir fast immer das eine erstreben und das andere ablehnen, und somit das von spanda in Bewegung gesetzte Rad weiter drehen, weil wir nicht erkennen, dass die Gegensätze gleichen Ursprungs sind. Erkennen wir dieses Geheimnis und handeln auch danach, werden wir frei. Bereits in der bhagavad gita wird auf diesen Umstand hingewiesen und der Gleichmut (nicht die Gleichgültigkeit im landläufigen Sinne!) als Grundlage zur Befreiung gepriesen.

„Er, der weder Freude noch Hass empfindet, der weder trauert noch begehrt, de dem Guten und dem Bösen abgeschworen hat, ihn (sagt krishna) liebe ich, der mir so ergeben ist. Er, der gegenüber Feind und Freund sich gleich verhält, auch gegenüber guter und schlechter nachrede, und der in Kälte und Hitze, Freude und Schmerz derselbe bleibt, der ist frei von Anhänglichkeit. Er, der Tadel und Lob für gleich hält, der schweigsam (beziehungsweise zurückhaltend im Reden) ist, der keine feste Heimstatt hat, jedoch festen Verstandes ist, ihn, den Hingegebenen, liebe ich.“

bhagavadgita 12.17-19

 

Das Sanskrit-Wort spanda geht auf die gleiche indo-europäische Wurzel zurück wie das lateinische Wort ex-pandere, „ausdehnen“, beziehungsweise auch auf das Verb „expandieren“ mit all seinen diversen Bedeutungen, wie vergrößern, zunehmen, sich ausdehnen oder erweitern. Alle Bewegungen dieser Art im Universum gehen auf spanda zurück. Gemäß den tantrischen Lehren des oben genannten Werkes spanda karika ist daher der höchste Bewusstseinszustand – wie überhaupt typisch in der tantrischen Tradition – nicht statisch, sondern pulsierend, lebendig und dynamisch. Das Göttliche verfügt nach dieser philosphischen Tradition nicht nur über diesen spanda – wie über ein Objekt -, sondern spanda ist ein Aspekt des Göttlichen, das, was das Göttliche sich seiner selbst bewusst sein lässt (ähnlich dem cit in sat-cit-ananda). Es ist die reine, vollkomende Reflexion des „Ich-bin“ im göttlichen Bewusstsein.

Ein weiteres wichtiges Element beziehungsweise Charakteristikum der tantrischen Tradition auf das in diesem Zusammenhang kurz eingegangen wird, ist die Verwednung von geometrischen Symbolen: mandalas, yantras usw. Diese bilden, einfach ausgedrückt, eine Art Landkarte, mit deren Hilfe sich der Yogi beziehungsweise Tantriker in der mystischen Geographie seines Körpers zurechtfinden kann. Über die Bedeutung des Wortes yantra und die Verwendung eines solchen schreibt Heinrich Zimmer in wunderbar anschaulicher Weise:

„Zunächst: was bedeutet der Ausdruck yantra? Das Suffix -tra wird im Sanskrit zur Bildung von Substantiven gebraucht, die Werkzeuge oder Geräte bezeichnen. Zum Beispiel bedeutet khan „graben“, khani „grabend“ oder „umwühlend“; khanitra ist „ein Instrument zum Graben, ein Spaten, eine Harke, eine Pike…“ Ähnlich bedeutet man (etymologisch mit mens verwandt) „denken oder im Sinn haben…“. entsprechend ist yantra ein Werkzeug zur Bereitung von yam. Was heißt aber nun yam? „Zügeln, unterwerfen, herrschen, kontrollieren“. Das Verbum yam bedeutet, Kontrolle über die in einem Element odr Wesen enthaltende Energie zu gewinnen. …In der Tradition der hinduistischen Frömmigkeit ist yantra der allgemeine Begriff für Geräte und Hilfsmittel des Kultes, im Besonderen für Idole, Bilder oder geometrische Diagramme. Ein Yantra kann erstens als Repräsentation einer bestimmten Personifikation oder eines gewissen Aspektes des Götllichen dienen, dann als Modell für die zuinnerst im Herzen dargebotene Verehrung einer gottheit, nachdem die Zubehöre äußeren Dienstes (Götterbild, Wohlgerüche, Opfer, hörbar geäußerte Gebete) von den fortgeschritteneren Frommen abgelegt wurden, und endlich als eine Art Grundkarte oder Schema für die stufenweise Entwicklung einer Vision, mit deren langsam wechselden Inhalten sich das Selbst identifiziert; anders ausgedrückt: mit der Gottheit in allen ihren Verwandlungsphasen. In solchem Fall birgt das Yantra dynamische Elemente. Wir können also sagen, dass ein Yantra ein Instrument zur Zügelung der psychischen Kräfte durch ihre Konzentrierung auf ein Modell oder Muster darstellt, und zwar drart, dass dieses Modell oder Muster von der visionären Einbildungskraft des Gläubigen reproduziert wird. So ist es eine Maschine zur Stimulierung von inneren Visualisierungen, Meditationen und Erlebnissen. Das vorgegebene Modell mag eine statische Vieion der Gottheit suggerieren, die verehrt werden oder der übermenschlichen Macht, die realisiert werden soll. Es kann aber auch eine Reihe von Visualisierungen hervorrufen, die wie die verbindenen Gleider oder Stufen eines Entwicklungsprozesses sich wachsend auseindander entfalten.“

Im Vergleich zum Yantra ist das mandala ein weitaus komplexeres Gebilde, eine Komposition von verschiedenen Mustern, Farben und Figuren. Es gibt, ähnlich wie bei den Ikonen der christlich-orthodoxen Traditionen, eine Grundstruktur, eine formale Form, der alle deise Arrangements folgen. Doch gleichzeitig gibt es auch hier das Element der Variation. Kein mandala gleicht dem anderen. Die dominierenden geometrischen Figuren sind Kreis und Quadrat. Das mandala ist ein symbolischer Ausdruck für die Gesamtheit des Kosmos und der darin enthaltenen konstituierenden Kräfte. Wie beim yantra, so soll der Praktizierende auch hier durch visuelle Konzentration in höhere Ebenen seines Seins beziehungsweise Bewusstsein vordringen.

Entscheidend ist für den Tantriker jedoch nicht das System von Philosophien, Lehren, Regeln und Praktiken, sondern –  die unmittelbare Erfahrung. Es ging und geht ihm um die Erfahrung der höchsten Freiheit, um das Erkennen der wahren Identität. Dieser Erfahrung gab man im Tantrismus verschiedene Namen: samarasya, „den Geschmack habend“, advaya „Nicht Zweiheit“, khecari, „in die Leere gelangen“ und natürlich sahaja „/Zustand der höchsten/Spontanität, Natürlichkeit“. Die Vielfältigkeit an Lehrinhalten, an Wegen, auf denen man das Ziel erreichen kann, und schließlich auch an Ausdrücken, mit denen man das Ziel versieht, sind ein Hinweis auf geradezu radikale Zielorientiertheit der Tantriker.

In der tantrischen Tradition zählt nicht  w i e  man ankommt, sondern  d a s s  man ankommt.

Auch die großen tantrischen Philosophen, wie vasugupta, abhinavagupta oder ksemaraja, um nur einige zu nennen, waren natürlich Praktiker.

Vor diesem Hintergrund sollte man auch noch ein Thema betrachten – einem überaus wichtigen Thema. Da nur über die Erfahrung des Lebens, beziehungsweise das Annehmen des Lebens mit all seiner Vielfalt und seinen Gegensätzen, das höchste Prinzip erlangt werden kann, stellt sich der Tantriker auch der dunklen Seite der Schöpfung. Mircea Eliade brachte dieses Thema in seinem Standardwerk „Yoga- Unsterblichkeit und Freiheit“ auf den Punkt und schrieb:

„Alle Gegensätze sind illusorisch, das extrem böse koinzidiert mit dem extrem Guten, der Zustand des buddha kann – in den Grenzen dieses Meeres an Scheins- zusammenfallen mit der höchsten Immoralität, und zwar aus dem guten Grund, das einzig das universelle Leere  i s t  und alles übrige ontologischer Realität ermangelt.“

Dies und anderes gilt es zu bedenken, wenn wir uns nun dem Thema Tantra und dem Gebrauch des Verbotenen widmen, einem Thema, dass in der westlichen Welt so gänzlich missverstanden wird. Dieser  Gebrauch des Verbotenen schließt die zeitweilige rituelle Überschreitung von gesellschaftlichen Regeln ein. Hierzu gehören unter anderem auch der sexuelle Akt, Alkohol und der Verzehr von Fleisch. Doch sind diese geheimen Rituale nicht darauf ausgerichtet, Genuss zu erlangen. Es geht hierbei immer um das höchste Ziel: Das Erkennen der wahren eigenen Identität, der unmittelbaren Erfahrung des höchsten, allumfassenden Bewusstseins /inner and outer spaces. Auf der Grundlage der Kongruenz von Sexualität und Spiritualität kann der rituelle Geschlechtsverkehr zur Erlangung des Zieles beitragen. Doch vieles wurde in diesem Zusammenhang, insbesondere von sogenannten esoterischen Kreisen im Westen, missgedeutet. Allein schon deshalb, weil man zwischen den Werken des Tantra (tantra-sastra) und den Werken der Erotik und Liebeskunst (kama-sastra) nicht zu unterscheiden vermochte – oder wollte. Kama sastra ist eine hochentwickelte indische Wissenschaft, in deren Mittelpunkt diverse erotisch-sexuelle Techniken zur Erlangung vollkommener sexueller Erfüllung stehen. Diese sexuelle Erfüllung -kama- ist übrigens eines der vier indischen Lebensziele (purusarthas), die wie folgt lauten:

  1. artha (Wohlstand)

  2. kama (sexuelle Befriedigung)

  3. dharma (sozio-religiöse Pflichterfüllung)

  4. moksa (Befreiung, Erlösung)

In den Werken des Tantra jedoch – und dies ist der wesentliche Punkt der Unterscheidung – in denen solche sexuellen Rituale beschrieben sind, ging und geht es  ü b e r h a u p t  n i c h t  um die Erlangung von kama, sondern immer nur darum, einen Weg zur Erleuchtung beziehungsweise zur Erkenntnis des höchsten Bewusstseins zu finden. Des weiteren gilt, dass -zB in den Ritualen der tantrischen kaula-Tradition – zwar von sexuellen Ritualen die Rede war, womit jedoch ein verinnerlichtes, also im Geist durchgeführtes Ritual gemeint war.

Allerdings kann man nicht verleugnen, dass es im Tantrismus auch zur Durchführung von sexuellen Ritualen kam (und möglicherweise noch immer kommt). Doch geschah dies sehr selten, betraf ausgesuchte hochentwickelte Schüler und zielte immer – wie der große Meister und Philosoph des Sivanismus von Kashmir, Abhinavagupta, in seinen Werken in diesem Zusammenhang ausdrücklich bemerkte – auf die Erweckung der kundalini ab. Um die Haltung gegenüber des Sexualität zu jener Zeit, als diese geheimen Rituale entstanden, verstehen zu können, müssen wir uns von unserer heutigen Auffassung von Sexualität, einer Auffassung die durch gewisse Entwicklungen im 20. Jahrhundert geprägt wurde, lösen. Zur Zeit der Entstehung des Tantrismus wurde Sexualität als etwas Sakrales erachtet, als ein Akt, in dem auf menschlich-mikrokosmischer Ebene der große Akt der Schöfpung des Universums symbolisch wiederholt wird. Von daher war Sexualität also etwas überaus Heiliges. Es wäre allerdings töricht, zu behaupten, dass die kosmische Schöpfung ebenfalls ein Akt der Sexualität  i s t – wie das häufig in westlichen esoterischen Kreisen getan wird, um unsinnigerweisen menschlichen Geschlechtsakt mit dem Schöpfungsakt gleichzusetzen. Auch  die in diesem Zusammenhang häufig geäußerte Behauptung, dass die sexuelle Energie mit sákti, der höchsten Schöpfungsenergie, identisch sei, ergibt keinen Sinn, da es in diesem Universum ja gar nichts anderes gibt als die höchste Energie. Es geschieht in Unkenntnis der tantrischen Lehren, wenn behauptet wird, sie bestünden im Wesentlichen darin, Spiritualität und Sexualität miteinander gleichzusetzen. Sexualität war und ist nach Auffassung der tantrischen Autoritäten etwas Besonderes, insofern es den göttlichen Akt der Schöpfung imitiert, wie überhaupt das menschliche Leben, mit all seinen endlichen und begrenzten Realitäten, das Absolute gleichsam nachbildet. Bei solchen Gelegenheiten drängt sich das Bibelwort „Und Gott schuf den Mensch zu seinem Bilde“ (1.Mose 1.27) auf. Natürlich ist die menschliche Existenz, sind alle unsere Handlungen Ausdruck unserer Zugehörigkeit zum Göttlichen, zum absoluten schöpferischen Bewusstsein – oder wie auch immer man das Höchste nennen mag. Der Mensch nimmt nach tantrischer Auffassung in seinen Handlungen auf begrenzter, individueller Ebene am Prozess des göttlichen Schaffens teil. Sexualität wiederholt also auf individueller Ebene den großen Schöpfungsakt – der ja nicht zu Ende ist und es nie sein wird, sondern sich in diesem Augenblick an jeder Stelle des Universums entfaltet.

Es ist also diese unermessliche, kreative, göttliche Energie, die im Zentrum des tantrischen Interesses steht, nicht vergleichsweise der unbedeutende menschliche Orgasmus.

Wie überhaupt die Ausrichtung des gesamten tantrischen Strebens niemals hedonistisch war. Genuss wurde nicht abgelehnt, aber er war auch nicht das Ziel. Das Ziel war und ist die Erweckung der makrokosmischen, also den gesamten Kosmos durchdringenden Kraft, die ihre mikrokosmische Entsprechung in jedem Individuum findet. Gelingt diese Erweckung – gegebenenfalls auch durch solche sehr streng gehandhabten Rituale -, so rückt nach tantrischer Auffassung die Befreiung in greifbare Nähe. Um es also noch einmal zusammenzufassen:

  1. Nicht Sexualität und Spiritualität als solche sind nach Auffassung der tantrischen Tradition identisch, sondern deren jeweilige Quelle. Ihr Ursprung ist ein und derselbe.

  2. Sinn und Zweck dieser höchst seltenen und nur für wenige auserwählte und höchst forgeschrittene Schüler gedachten sexuellen Rituale – die übrigens immer unter strenger Aufsicht des Gurus stattfinden – war und ist nicht der sexuelle, sondern der geistig-spirituelle Höhepunkt, die Vereinigung mit dem Absoluten – der Zustand des samarasa oder sahaja.

 

Literatur: Fritjof Capra, Das Tao der Physik, Bern 1986 (engl. Originalausgabe 1975), Heinrich Zimmer, Indische Mythen und Symbole, Düsseldorf 1972, Mircea Eliade, Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit, Frankfurt a.M. 1985